Home

1945: Wie ich als Siebenjährige das Kriegsende erlebte


Kunst u. Zeitgeschichte:
Herbert Friedl - Maler,Grafiker; Objekt- und Raumkünstler

Timeline zur Oberösterreichischen Zeitgeschichte 1938

Zeitzeugenberichte

Publikationen
zur Zeitgeschichte


Heimatvertriebene


www.regionalkultur.at
Geschichteclub Stahl



Autorin: Ehrentraud Sommerbauer


Schon das siebente Jahr leben wir im Marktflecken Obernberg am Inn. Nach der politisch bedingten Versetzung meines für das Regime allzu christlich gesinnten Vaters, der als Staatsbeamter (Hauptschullehrer) partout nicht Parteimitglied werden will, haben sich meine Eltern allen Schwierigkeiten zum Trotz hier eingewöhnt und sich im Ort einen guten Ruf erworben. Inzwischen sind wir auch von den fensterlosen Räumen des aufgelassenen Gasthauses, das anfangs unsere Wohnstätte war, in den ersten Stock einer hübschen Villa am Ufer des Inn übersiedelt. Die Schulen sind längst geschlossen, Vater ist Beauftragter für das Wohl der Hunderten von Flüchtlingen, die großteils aus dem Banat kommen und seit Monaten hier eintreffen. So dient jetzt das große Schulhaus als Unterkunft für die heimatlos Gewordenen. So klein ich bin, noch nicht sieben Jahre alt, verstehe ich doch schon die Not der Menschen und werde so manche Szene nie vergessen; etwa wie zwei Frauen um einen gespendeten Kochtopf streiten, jede vermeint bessere Argumente zu haben, ihn zu beanspruchen. Obwohl ich ein Kind bin, erscheint mir dieser Streit nicht etwa lustig, sondern ich empfinde ihn als wirklich tragisch und ich verspüre tiefes Mitgefühl. Hin und wieder fliegen Flugzeuge über unser Haus, die gefürchteten Tiefflieger sind es oft, und Mutter stirbt tausend Tode, als ich einmal nach dem Ertönen der Fliegeralarmsirene mitten durch den Garten renne. Noch aber ist keine Bombe gefallen, noch ist kein Schuss in Obernberg gehört worden.

Das sollte sich am 2. Mai 1945 auch in diesem versteckten Marktflecken ändern. An diesem Tag war es gegen fünf Uhr Nachmittag so weit: Mutter und ich blickten gerade aus dem Wohnzimmerfenster, als amerikanische Soldaten – und es waren gar nicht so wenig – auf dem gegenüberliegenden bayrischen Ufer aufmarschierten. Leider begann jemand auf der Obernberger Seite zu schießen, und natürlich wurde das Feuer sofort erwidert. Eine Granate durchstieß das Fenster und blieb im ovalen Tischchen knapp vor uns stecken. Also höchste Zeit, in den Keller zu flüchten! Mutter riss meine wenige Monate alte Schwester aus dem Bettchen, ich packte meine Lieblingspuppe, nur schnell die Treppe hinunter! Aus der Parterrewohnung stürzte Herr Meier, seines Zeichens 200-prozentiger Parteigenosse. Er, der unsere Familie natürlich immer abgelehnt und, wo es ging, brüskiert hatte, eilte bei seiner panischen Flucht auf der Kellerstiege an mir vorbei, stieß mich dadurch nach hinten, wodurch er zum Sturz kam und bäuchlings die Stufen hinabsegelte. Doch dadurch wurde er zu meinem Lebensretter, denn in diesem Augenblick durchbrach eine Granate die Mauer und blieb in der gegenüberliegenden Wand stecken, ohne zu explodieren. Sie hätte mir den Leib zerfetzt!

In den Stunden, die nun folgten, wurde unser Haus stark beschossen (am nächsten Tag zählten wir über hundertfünfzig Einschläge und das Dach glich einem Sieb). Wir saßen zitternd auf den Kohle- und Erdäpfelsäcken, Mutter stillte die Kleine und war überglücklich, als Vater, der während der Schießerei nach Hause lief, heil in den Keller kam. Herr Meier aber, der tapfere Held des Tages, hing am Fenster und brüllte voller Angst und Panik: "Lassts mi außi, lassts mi außi!"

Am nächsten Tag bekamen wir Einquartierung von neun Mann und einem Schäferhund, der in meinem Kinderbett schlafen durfte, worüber ich furchtbar wütend war. Wir selber, unsere ganze Familie, musste zum gefürchteten Ehepaar Meier ins Erdgeschoß ziehen. Das war aber gar nicht mehr zum Fürchten, im Gegenteil, man war äußerst freundlich zu uns, versorgte uns mit Lebensmitteln, von denen wir gar nicht geglaubt hätten, dass es sie im siebenten Kriegsjahr noch gäbe. Allerdings wurde mein Vater von Herrn Meier täglich angefleht, er solle doch ein gutes Wort für ihn bei den Amerikanern einlegen, er habe nie Parteimitglied werden wollen, aber er hätte müssen ...

Vieles hat sich von diesen letzten Kriegstagen in mein Gedächtnis eingegraben: die weißen Friedensfahnen, die erste Schokolade von den "Amis", das
Auf-den-Arm-Nehmen meiner kleinen Schwester durch den ersten Neger meines Lebens, das natürlich verbotene Zuschauen (hinter einem Holzstapel versteckt) von uns Kindern bei der Entschärfung einer 500-kg-Bombe, die erste Fahrt zur Großmutter in Bad Ischl nach der Bombardierung von Attnang-Puchheim, das "Hamstern" in der Nachkriegszeit, sechs Sardinen (eine Dose) für drei Personen (!) als Abendmahlzeit, die Lebensmittelmarken und und und ..., aber auch die Freude über das Werden und Erstarken eines neuen Österreich.


nach oben


"Oberösterreich in der Zeit des Nationalsozialismus"
ein wissenschaftliches Großprojekt des Landes

Näheres zum Projekt, sowie zur detaillierten Publikationsliste (Stand Oktober 2007) ...