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Autorin: Dr. Gertrud Widder
Ich wurde am 25. Juli 1929 geboren und erinnere mich noch gut an meinen Geburtstag des Jahres 1934, es war Dollfuß' Todestag. Meine Eltern hatten sein Bild aufgestellt und eine Kerze davor angezündet, wie zu Allerseelen. Für meine jüngere Schwester war die Sache klar und so sprach sie dem Bild Trost zu: "Sei nicht traurig, du darfst jetzt im Himmel Ringelspiel fahren mit der Himmelmutter und den Engelein!"
1938 erlebten wir Kinder den Einmarsch der deutschen Truppen praktisch am eigenen Leib, da unser geräumiges Kinderzimmer als Quartier für drei Offiziere von der Wehrmacht requiriert wurde. Jeden Morgen kam ihr Bursche und putzte die Stiefel seiner Herren im Stiegenhaus. Die Offiziere waren freundlich und auch verständnisvoll, sonst wäre meine Mutter nicht ungeschoren davongekommen, als sie voll Verzweiflung ausrief: "Jetzt haben sie unsere Heimat gestohlen!"
Auch mein Vater hatte Glück. Obwohl er bekanntlich kein Freund der Nazis war, durfte er seinen Beruf als Rechtsanwalt weiter ausüben. Allerdings musste er in den folgenden Jahren immer öfter Pflichtverteidigungen beim Volksgerichtshof übernehmen, die ihm schwer auf der Seele lasteten, da ausschließlich Todesurteile gefällt wurden. Die Richter kamen zur Urteilsverkündung aus Berlin, ihre grellroten Talare waren allein schon ein Furcht erregender Anblick, wie mein Vater erzählte. Seine Klienten waren zum Großteil Deserteure oder wegen Selbstverstümmlung, Wehrzersetzung und anderen politischen Delikten angeklagt. Als letzte Gnade erbaten sich die Verurteilten sehr oft, dass mein Vater sie zur Hinrichtung begleiten sollte, wenn diese in Linz (Treffling) durch Erschießen stattfand. Oft wurde ein Todesurteil aber auch in Wien mittels einer Guillotine vollstreckt. Mein Vater brauchte immer viel Zeit, um solche Dienste zu verkraften, da waren ja auch oft noch die verzweifelten Angehörigen zu trösten.
Nicht auf Leben und Tod ging es, wenn man beim Hamstern erwischt wurde, obwohl es auch da oft Gefängnisstrafen gab. Ich begleitete meine Mutter öfter auf Hamsterfahrten zu unseren Verwandten ins Innviertel und erinnere mich an unsere weiten Fußmärsche, oft bei eisigem Wetter, und die Angst, die wir vor den Kontrollen hatten.
Einmal fuhr ich allein mit der Eferdinger Bahn zu unseren Verwandten in die Edtmühle, wo wir nie vergeblich einkehrten.
Beim Einsteigen in den Zug hatte es keine Kontrolle gegeben, nun musste ich nur noch glücklich aus dem Bahnhof in Linz kommen. Als der Zug hielt, wusste ich nicht recht, ob ich vorne oder hinten aussteigen sollte, schließlich war ich die Letzte und stellte erleichtert fest, dass nicht kontrolliert wurde. Frohgemut machte ich mich auf den Heimweg, als plötzlich eine schwere Hand auf meine Schulter fiel, das Schicksal hatte mich ereilt, mein Herz klopfte wie rasend. Vermutlich hatte das Auge des Gesetzes mein Zögern beim Aussteigen bemerkt. In Erwartung eines beachtlichen Fanges durchwühlte der Mann meinen Rucksack und war sichtlich enttäuscht, denn so großartig war die Ausbeute wirklich nicht. Mit den Worten "Na, Dirndl, wegen dem Bisschen hättest du auch nicht so ein Theater machen müssen" ließ er mich laufen.
Eine meiner Freundinnen hatte nicht so viel Glück, ihr wurde nach dem Verlassen der Mühlkreisbahn sogar ihr Jausenbrot abgenommen.
Ich bin überzeugt, dass es sich dabei um eine rein private Lebensmittelbeschaffung gehandelt hat.
Schwarzmarkt und Tauschhandel blühten natürlich in diesen Jahren und dort versuchte ich auch ein Weihnachtsgeschenk für meine Mutter, die eine starke Raucherin war, aufzutreiben. Im Tausch gegen meine schöne Babypuppe, die ich mit dreizehn Jahren wirklich entbehren konnte, erstand ich drei Päckchen (nicht Stangen) Zigaretten. Es sind ägyptische, die allerteuersten, wurde mir erklärt und darum bekäme ich auch nur drei Päckchen. So war ich also glücklich, meine Mutter war es weniger, weil sie den Betrug durchschaute, und die Puppe war dahin.
Mit der Hitlerjugend hatte ich Glück, man hat mich wahrscheinlich mit meiner Schwester verwechselt, die wegen eines Herzfehlers von den Heimstunden befreit war, und so bekamen wir beide keine Einladungen.
Zu Schulfesten musste ich mir immer eine Uniform ausleihen. Meinem älteren Bruder ging es nicht so gut, er besuchte das Gymnasium auf der Spittelwiese und die ganze Klause musste geschlossen als freiwillige Pflicht der HJ beitreten, weder sein Klassenvorstand noch unser Vater konnten ihm erklären, was eine freiwillige Pflicht sei. Mein Bruder wagte nicht einen einzigen Heimabend zu schwänzen, denn ein dreimaliges Fehlen wurde mit einem Wochenende "Bau" bestraft, das war ein strenges Lager in Ottensheim.
Im Vorgarten meiner Schule, des Lyzeums, wurde ein Splittergraben ausgehoben, da bei Fliegeralarm nicht Platz für alle im Luftschutzkeller war. Gott sei Dank haben wir den Splittergraben nur einmal bei einem Probealarm betreten, im Ernstfall hätte er leicht zu einem Massengrab werden können. Ich erinnere mich noch an einen der vielen Fliegeralarme, als ich meinen kleinen Bruder aus seinem Gitterbett holte, weinend: "Die Hyäne heult so!"
Nach Fliegerangriffen wurden wir klassenweise zu Aufräumungsarbeiten befohlen.
Wenn ich daran denke, wie wir Vierzehnjährigen mit bloßen Händen vor den Bombentrümmern standen in der Figulystraße oder einmal in das Gelände der Hermann Göring Werke geschickt wurden und gerade noch vor dem nächsten Bombenangriff einen Luftschutzraum erreichten, kann ich nur den Kopf schütteln über diesen Höhepunkt an Sinnlosigkeit.
Da war das Sammeln, zu dem wir in Zeiten des totalen Krieges verpflichtet wurden, schon sinnvoller. In der Schule wurden Altpapier, Spinnstoffe und Knochen gesammelt. Die meist mehrmals ausgekochten Suppenknochen mussten als wertvoller Rohstoff abgeliefert werden. Ich erinnere mich an unsere Chemielehrerin, die, gegen Gerüche unempfindlich, in einer stinkenden Hütte in unserem Schulhof die Knochen abgewogen hat und uns die Erfüllung unseres Plansolls bescheinigte. Einfacher war das Sammeln von Heilkräutern in den Ferien. Ich entschied mich für Brennnesseln, denn mit Handschuhen ging das Pflücken ganz gut und die großen Blätter waren ziemlich ausgiebig. Trotzdem musste ich fleißig sein, bis ich das vorgeschriebene halbe Kilo getrockneter Blätter beisammen hatte.
Als die Russen näherrückten, sollten wir Fünfzehnjährigen die tapferen Verteidiger unserer Stadt, die zum Schanzen aufgerufen würden, mit Verpflegung versorgen. Ein Kochkurs für Massenverpflegung wurde zur Pflichtübung und ich erhielt einmal eine schwere Rüge, da ich einen Nudelabsud weggeschüttet und damit Unmengen von wertvollen Stoffen unseren Volksgenossen entzogen hatte. Zur Vervollständigung unserer Kochpraxis wurden wir klassenweise auf die verschiedenen Kasernenküchen verteilt, zum großen Gaudium der Soldaten. Ich war froh, als mich eine Blinddarmentzündung von diesem Praktikum befreite.
Zur Rekonvaleszenz verbrachte ich einige Zeit bei unseren Verwandten in der Edtmühle bei Waizenkirchen. Einmal half ich auf dem Feld, als plötzlich ein Tiefflieger auftauchte. So schnell wir konnten, liefen wir zum nächsten Gebüsch, wo wir uns versteckten. Das Flugzeug drehte ab, wir hörten Schüsse und erfuhren, dass es einen Nachbarn auf der Hausbank erwischt hatte. Er war leider nicht das einzige Opfer in der Gegend.
Wenn ich an diese Zeit zurückdenke, erinnere ich mich mit Wehmut und großer Trauer an den jungen Pianisten Helmut Hilpert, Jahrgang 1925. Nie werde ich vergessen, wie er Beethovens "Wut über den verlorenen Groschen" auf unserem Flügel spielte. Mit eben dieser Komposition hatte das fünfzehnjährige Wunderkind im Rahmen eines Schulausfluges mit dem Khevenhüller-Gymnasium auf den Obersalzberg Hitler so beeindruckt, dass er dem jungen Pianisten ein Stipendium an der Musikhochschule Leipzig verschaffte. Neben dem Musikstudium schloss er die Mittelschule in Leipzig ab. Hitlers Befreiung vom Kriegsdienst für hoch Begabte kam zu spät. Helmut Hilpert fiel unmittelbar nach der Matura in Stalingrad, 19 Jahre alt, mit ihm die Hälfte seiner Klasse.
Meine Gymnasialzeit von der dritten bis zur sechsten Klasse ließe sich übertiteln: "Vom Splittergraben zum Götterschlatz". Letzteres war der Name für ein kalorienreiches Getränk der amerikanischen Schülerausspeisung, bestehend aus Trockenei, Zucker, Trockenmilch und Wasser. Wir bekamen aber auch noch zur Abwechslung Kakao mit Nudeln und Weißbrot mit Dosenfleisch.
Wie im Jahre 1938 hatten wir auch 1945 wieder Einquartierung, diesmal waren es die Amerikaner und sie besetzten das ganze Haus (Schlägler Stiftshaus, Landstraße 16). In die Kanzlei meines Vaters war ein Officer mit seinen Ordonanzen eingezogen, sämtliche Akten, Gesetzbücher und sonstigen Schriftstücke wurden durch einen Wurf aus dem ersten Stockwerk in den Hof entsorgt. Unsere Restfamilie - mein Bruder war siebzehnjährig im April 1945 noch nach Berlin einberufen worden - lebte im Hinterhaus in zwei verwanzten Kammern. Unsere kärgliche Verpflegung konnten wir mit Hilfe der amerikanischen Soldaten aufbessern, als Gegenleistung wuschen wir für sie, was ja nicht so schlimm gewesen wäre, wenn wir Fließwasser gehabt hätten. Die Leitungen waren tot, der nächstgelegene Brunnen befand sich in einem Hof auf der Spittelwiese. Nun war aber die Landstraße in unserem Viertel für Zivilisten gesperrt und so hatten wir einen beschwerlichen Weg zum Brunnen auf der Spittelwiese. Vom Hinterhaus ging es in einen ziemlich großen Obstgarten, der von einer Mauer begrenzt war. Mittels einer Leiter überstiegen wir die Mauer und standen im Hof südlich der Sparkasse. Von dort aus ging es in die Herrenstraße, auf die Spittelwiese und zum Brunnen. Der Weg zurück mit den vollen Wasserkübeln war mühsam, besonders über die Leiter ähnelten wir Zirkusakrobaten. An unsere letzte Tour erinnere ich mich noch sehr gut. Wir hatten stundenlang Wasser getragen und sämtliche Schaffe!, Tröge und den großen Grander in der Waschküche angefüllt, als es plötzlich in der Leitung gluckerte, das Wasser war wieder da!
Wir hatten Glück in der amerikanischen Besatzungszone, ein Gang über die Brücke zu den Russen war niemand geheuer, es kursierten Gerüchte, dass manch einer bis nach Sibirien verschleppt worden sei. Jeder war froh, den Kontrollpunkt beim Rückweg hinter sich zu haben, so auch ich. Leider gab mir einmal der russische Posten meinen Identitätsausweis nicht gleich zurück, sondern verwickelte mich in ein Gespräch. Er war freundlich, ich ging auf ihn ein, hatte er doch meinen Ausweis in Händen. Mittlerweile wurde die Reihe der Wartenden hinter mir immer länger. Endlich hatte der Russe genug von seiner Deutschlektion und gab mir den Ausweis zurück. Der Weg war frei für mich und die anderen, von denen mich einige verärgert anrempelten, ich hätte dem Russen schöne Augen gemacht. Nun war ich auf der Hut, und als wenig später ein Amerikaner mir freundliche Augen machte und wahrscheinlich auf der Straße ein paar Worte sprechen wollte, sagte ich, um ihn abzuwehren: "Go to hell!" Verblüfft war ich über seine Reaktion. Ich erntete einen fassungslosen Blick und einen Fußtritt gegen meinen verlängerten Rücken.
Die Schule hatte wieder begonnen, das 1945 ausgesetzte Schuljahr, für mich war es die sechste Klasse, wurde wiederholt. Wir durften auf Schikurs fahren, auf die Tauplitz. Unsere Schier, Nudelwalker genannt, waren aus ehemaligen Wehrmachtsbeständen, noch mit der weißen Tarnfarbe vom Feldzug in Norwegen, natürlich ohne Kanten und mit primitivsten Bindungen, woher Schischuhe nehmen? Ich hatte bestimmt die ehrwürdigsten. Es waren die nägelbeschlagenen Bergschuhe, die mein Vater im Ersten Weltkrieg an der Dolomitenfront getragen hatte. Sie waren natürlich zu groß, aber mit Papier ausgestopft ging es schon, nur das Oberleder hielt nicht stand und bekam einen langen Riss. Hätte unser Klassenvorstand nicht eine Tapezierernadel in seinem Notfallsgepäck gehabt, wäre es für mich aus gewesen mit dem Schifahren und dabei hatte ich einen so tollen Schianzug, nämlich eine kanadische Feuerwehruniform, mit der mein Bruder aus der Kriegsgefangenschaft heimgekommen war.
Dr. Gertrud Widder geb. Bruneder
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